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Inhaltsverzeichnis
5 Petrus – der erste Papst?
Wir haben schon festgestellt, dass Petrus in der Urkirche eine führende Stellung einnahm. Könnte man nicht doch sagen, dass er eine ähnliche Autorität hatte, wie sie später die Päpste beanspruchten, und dass er dadurch auch das Urbild der Päpste war?
5.1 Die Stellung Petri in der Urkirche
5.1.1 Im Allgemeinen
Während der Zeit des irdischen Wirkens Jesu war Petrus einer der drei Jünger im engsten Kreis. In den „Apostellisten“ wird er stets an erster Stelle genannt. Nach der Auferstehung Jesu war er es, der die Bestellung eines Ersatzmannes für Judas in die Wege leitete.1 Immer wieder finden wir in den Anfangskapiteln der Apostelgeschichte, dass Petrus in der Öffentlichkeit für die Gemeinde spricht. Auf seine wichtige Rolle bei der Ausdehnung der Gemeinde auf Samariter und Heiden wurde bereits hingewiesen. War er also doch der, der alles in der Hand hatte, der erste Papst?
Wir möchten hier auf einige Details hinweisen, die dieses Bild korrigieren:
- Bei der „Wahl“ des Ersatzmannes für Judas war Petrus initiativ, die beiden Kandidaten wurden aber nicht von ihm, sondern von „ihnen“, also den versammelten Jüngern, aufgestellt. Auch die Entscheidung wurde nicht von Petrus getroffen.
- In der Frage der Witwenversorgung2 waren es „die Zwölf“, die gemeinsam eine Lösung fanden. Petrus wird hier nicht gesondert erwähnt.
- Die Initiative zur Verkündigung unter den Samaritanern ging von Philippus aus, der kein Apostel war.3
Als die Apostel in Jerusalem hörten, dass Samarien das Wort Gottes angenommen hatte, schickten sie Petrus und Johannes dorthin. (Apostelgeschichte 8,14)
Petrus und Johannes wurden von den Aposteln gesandt. Es war nicht so, dass Petrus das aus eigener Vollmacht beschlossen hätte, oder dass er einen Gesandten („Nuntius“) hingesandt hätte.
- Auch zu Kornelius4 reiste Petrus nicht aus eigener Initiative. Als Kornelius ihm huldigen wollte, ließ Petrus das nicht zu.
Als nun Petrus ankam, ging ihm Kornelius entgegen und warf sich ehrfürchtig vor ihm nieder. Petrus aber richtete ihn auf und sagte: Steh auf! Auch ich bin nur ein Mensch. (Apostelgeschichte 10,25–26)
Bei seiner Rückkehr nach Jerusalem musste Petrus sein Verhalten rechtfertigen. Er tat das mit einer klaren Darstellung des Sachverhalts, nicht aber mit einem Hinweis auf seine apostolische (oder päpstliche) Autorität.
- Bei der Apostelversammlung zur Frage der Einhaltung des jüdischen Gesetzes spielte Petrus eine zentrale Rolle. Das entscheidende Schlusswort wurde aber von Jakobus gesprochen.5
- Wenn Paulus im selben Zusammenhang in Galater 2,9 von den Säulen der Gemeinde (Jakobus, Kephas und Johannes) schreibt, erwähnt er Jakobus – nicht Kephas (Petrus) – an erster Stelle.
- In Galater 2,11–14 wurde Petrus von Paulus vor der Gemeinde von Antiochien ermahnt. Petrus hat diese Ermahnung angenommen.6
- In 1. Petrus 5,1–4 nennt sich Petrus nur „Mitältester“. Der Oberhirte ist Jesus.
Petrus war wichtig, aber doch nur einer der Apostel. Er hat Kritik und Korrektur demütig angenommen. Er hat weder Unfehlbarkeit noch einen Jurisdiktionsprimat beansprucht. Aus der Apostelgeschichte gewinnen wir den Eindruck, dass, je gefestigter die Gemeinde wurde, Petrus mehr und mehr in den Hintergrund trat.
5.1.2 In Rom
Da der Papst den Anspruch erhebt, als Bischof von Rom der Nachfolger Petri zu sein, ist auch die Frage nach der Stellung Petri in der Gemeinde von Rom zu behandeln.
Die Gemeinde von Rom ist vermutlich durch Juden, die beim Pfingstfest des Jahres 30 zum Glauben an Jesus fanden, entstanden.7 Petrus war an der Entstehung dieser Gemeinde durch seine Verkündigung in Jerusalem beteiligt.
Ob Petrus sich nach seiner wunderbaren Befreiung aus dem Gefängnis8 nach Rom begeben hat, wie nicht nur von katholischer Seite angenommen wird, ist fraglich. Der Satz „Dann verließ er sie und ging an einen anderen Ort.“9 lässt alles offen.
Paulus erwähnt in seinem im Jahre 57 geschriebenen Brief an die Römer Petrus nicht, was dafür spricht, dass Petrus damals nicht in Rom war. Desgleichen erwähnt auch Lukas, wenn er über die Ankunft des Paulus als Gefangener in Rom im Jahre 60 berichtet,10 nichts von Petrus. Auch das bedeutet mit größter Wahrscheinlichkeit, dass Petrus damals nicht in Rom war.
In 1. Petrus 5,13 lesen wir:
Es grüßen euch die Mitauserwählten in Babylon und mein Sohn Markus.
Auch wenn in manchen protestantischen Kreisen versucht wird, zu erklären, dass hier Babylon in Mesopotamien bzw. eine römische Kolonie dieses Namens in Ägypten gemeint sei, spricht doch alles dafür, dass Petrus diesen Brief aus Rom geschrieben hat, und dass „Babylon“ – wie im Buch der Offenbarung – ein Deckname für Rom ist. Zur Zeit der Niederschrift dieses Briefes war Petrus in Rom. Vermutlich ist er bald nach 62 dort eingetroffen.
In 1 Klemens 5 (in Fußnote 32 zitiert) wird Petrus im Zusammenhang mit Opfern der neronischen Christenverfolgung erwähnt, was seinen Tod in Rom voraussetzt.
Petrus hat also sein irdisches Leben in Rom beendet. Das bedeutet aber nicht, dass er Bischof von Rom war. Als Apostel hatten seine Worte in der Gemeinde von Rom auf jeden Fall Gewicht. Das heißt jedoch nicht, dass er der Leiter dieser Gemeinde war. Da die Gemeinde von Rom schon lange vor der Ankunft Petri bestand, hatte diese schon ihre gewachsenen Strukturen, in die Petrus, der sich als „Mitältester“ verstand, nicht eingriff.
5.2 Zur Frage der Apostolischen Sukzession
Wenn Petrus weder Gründer noch „Bischof“ der Gemeinde von Rom war, erübrigt sich die Frage nach der apostolischen Sukzession. Da aber katholischerseits der Anspruch erhoben wird, dass es zwischen Petrus und dem derzeitigen Papst eine ununterbrochene Kette von Handauflegungen gebe, wollen wir uns auch mit dieser Frage auseinandersetzen.
5.2.1 Kann es einen Nachfolger Petri geben?
Wie bereits erwähnt, berichtet Apostelgeschichte 1,15–26 von der Bestellung eines Nachfolgers oder Ersatzmannes für Judas. Dort heißt es in den Versen 21–22:
Einer von den Männern, die die ganze Zeit mit uns zusammen waren, als Jesus, der Herr, bei uns ein und aus ging, angefangen von der Taufe durch Johannes bis zu dem Tag, an dem er von uns ging und (in den Himmel) aufgenommen wurde, – einer von diesen muss nun zusammen mit uns Zeuge seiner Auferstehung sein.
Der neu zu bestimmende Apostel musste ein Zeuge der Auferstehung Jesu sein. Deswegen konnte auch Paulus, dem der auferstandene Herr Jesus erschienen ist, Apostel sein.
Bin ich nicht frei? Bin ich nicht ein Apostel? Habe ich nicht Jesus, unseren Herrn, gesehen? Seid ihr nicht mein Werk im Herrn? (1. Korinther 9,1)
Als Jakobus, der Bruder des Johannes, durch Herodes Agrippa I. (König von Judäa 41–44) enthauptet wurde,11 wurde kein Nachfolger für ihn bestimmt.
Auch die bereits erwähnten Stellen Epheser 2,20 und Offenbarung 21,14 unterstreichen die Einmaligkeit des Apostelamtes.
Beachtenswert sind auch die Worte Petri in 2. Petrus 1,12–15:12
Darum will ich euch immer an das alles erinnern, obwohl ihr es schon wisst und in der Wahrheit gefestigt seid, die ihr empfangen habt. Ich halte es nämlich für richtig, euch daran zu erinnern, solange ich noch in diesem Zelt lebe, und euch dadurch wach zu halten; denn ich weiß, dass mein Zelt bald abgebrochen wird, wie mir auch Jesus Christus, unser Herr, offenbart hat. Ich will aber dafür sorgen, dass ihr auch nach meinem Tod euch jederzeit daran erinnern könnt.
Petrus weist hier nicht darauf hin, dass sich die Gläubigen nach seinem Tod an Linus bzw. an den Bischof von Rom wenden sollen. Er erinnert sie an seine Lehre, und er hat auch seinen Brief deswegen geschrieben, um sie an die Grundlage zu erinnern, die er durch seine Lehre bei ihnen gelegt hat.
Wenn wir von einem „Nachfolger“ Petri bzw. der Apostel sprechen können, dann können nur die Schriften des Neuen Testaments gemeint sein. Diese Schriften enthalten die Lehre der Apostel unverfälscht.
5.2.2 Seit wann gab es in Rom ein monarchisches Bischofsamt?
Mit dem Begriff „monarchisches Bischofsamt“ meinen wir eine Kirchenstruktur, in der es in einer Gemeinde nur einen einzigen Gemeindeleiter gibt. Diese Struktur ist im Neuen Testament unbekannt und erstmals in den Briefen von Ignatius von Antiochien (gestorben um 110) bezeugt.13
Es gibt aus der frühen nachapostolischen Zeit (spätes erstes und frühes zweites Jahrhundert) drei Dokumente, aus denen wir einen gewissen Einblick in die damalige Struktur der Gemeinde von Rom gewinnen können.
5.2.2.1 Der Erste Klemensbrief
Dieser Brief wird üblicherweise in die 90er Jahre des 1. Jahrhunderts datiert, häufig in das Jahr 96. Es gibt aber gute Gründe dafür, ihn bereits in das Jahr 69 zu datieren. Auf jeden Fall ist er das früheste Zeugnis eines Schreibens der römischen Christengemeinde. Es handelt sich um einen Brief der Gemeinde von Rom an die Gemeinde von Korinth. Anlass für das Schreiben ist, dass die Korinther auf ihre Ältesten nicht mehr gehört haben und diese durch andere ersetzt haben. In diesem in der Wir‐Form geschriebenen Brief wird kein Autor genannt. Die Tradition schreibt ihn Klemens von Rom zu.
Dieser Brief kennt das monarchische Bischofsamt nicht. Es geht um die Ältesten (Plural) im Korinth, die wieder mit ihren Aufgaben betraut werden sollen. In Kapitel 44 werden die Begriffe episkopos (Vorsteher – „Bischof“) und presbyteros (Ältester) austauschbar verwendet.14
Auch für Rom gibt es in diesem langen Brief nichts, was auf ein monarchisches Bischofsamt schließen ließe.
5.2.2.2 Der Hirt des Hermas
Diese in Rom entstandene Schrift aus dem späten 1. oder frühen 2. Jahrhundert15 kennt ebenso kein monarchisches Bischofsamt. In dieser Schrift geht es nicht um Kirchenstruktur. In der zweiten Vision, in Kapitel 4,3 heißt es:
Du wirst zwei Abschriften fertigen und eine dem Klemens, eine der Grapte senden. Klemens wird es an die auswärtigen Städte schicken, das ist ihm aufgetragen worden; Grapte wird die Witwen und Waisen mahnen. Und du wirst es in dieser Stadt gemeinsam mit den Presbytern, den Vorstehern der Kirche, vorlesen.
Von einem monarchischen Bischof ist keine Rede. Wir können daher davon ausgehen, dass es zur Zeit der Niederschrift, die gewiss nach dem Tod des Petrus war, keinen monarchischen Bischof von Rom gab, sondern nur eine Gruppe von Presbytern (Ältesten).
5.2.2.3 Der Brief des Ignatius an die Römer
Ignatius war Bischof von Antiochien in Syrien16 und wurde unter Trajan zum Tierkampf in Rom verurteilt. Es wird vermutet, dass er um ca. 110 in Rom gestorben ist. Auf seiner Reise nach Rom schrieb er sieben Briefe, in denen ein Hauptthema die Unterordnung unter den Bischof ist. Ignatius war sehr bestrebt, das monarchische Bischofsamt, das damals im Entstehen begriffen war, zu fördern.17
Umso auffallender ist es, dass er in seinem Brief an die Römer das monarchische Bischofsamt nur im Zusammenhang mit der Gemeinde in Syrien, nicht aber mit Rom erwähnt.
Wir zitieren aus dem 9. Kapitel des Briefes von Ignatius an die Römer:
Gedenket in eurem Gebete der Kirche von Syrien, deren Hirte an meiner statt Gott ist. Jesus Christus allein wird ihr Bischof sein und – eure Liebe. Ich aber muss mich schämen, zu ihren Mitgliedern zu zählen; denn ich verdiene es nicht, da ich der letzte unter ihnen bin und eine Fehlgeburt; aber durch (Gottes) Erbarmung bin ich etwas, wenn ich zu Gott gelangt bin. Meine Seele grüßt euch und die Liebe der Kirchen, die mich aufgenommen haben im Namen Jesu Christi, nicht wie einen (gewöhnlichen) Durchreisenden. Denn auch die, die nicht an meinem Wege – den ich dem Fleische nach mache – liegen, haben mir von Stadt zu Stadt das Geleite gegeben. (Ignatius an die Römer 9,1–3)
Die Formulierung in Vers 1, dass jetzt Gott an seiner statt Hirte der Kirche von Syrien ist, zeigt, dass das monarchische Bischofsamt damals noch in den Anfängen war, dass es nicht selbstverständlich war, dass auf Ignatius ein anderer monarchischer Bischof folgte. Offensichtlich breitete sich damals im Osten des Reiches das monarchische Bischofsamt immer mehr aus. In Rom hingegen gab es weiterhin die alte auf die Apostel zurückgehende Struktur mit mehreren Ältesten.
Es gab also mindestens bis zum Jahre 110 – vermutlich noch länger – keinen Bischof von Rom. Wenn es nun mehr als vierzig Jahre nach dem Tod Petri noch keinen Bischof von Rom gab, wie kann dann behauptet werden, dieser sei dessen Nachfolger?
Wir zitieren den katholischen Kirchenhistoriker Norbert Brox:
Der monarchische Bischof ist nicht in allen Kirchen gleichzeitig eingeführt worden. Ignatius setzte […] gerade in seinem Brief nach Rom nicht voraus, dass die Kirche dort schon einen monarchischen Bischof hat – in auffälligem Gegensatz zu den kleinasiatischen Gemeinden, an die er schrieb, und in denen er jeweils Einzelbischöfe amtieren wusste und zum Teil mit Namen nannte […]. Und noch um 14018 ist die kollegiale Leitungsform für die Kirche in Rom durch ein dort geschriebenes Buch dokumentiert (Past Herm Vis. II,4,3; III,1,8; 5,1; Sim. IX, 27,2). Um diese Zeit sind noch Presbyter die verantwortlichen Sprecher der römischen Gemeinde (Epiphanius, pan. 42,2,2). Was nach Ignatius um das Jahr 110 anderswo schon eingeführt war, dass nämlich ein einziger Bischof an der Spitze der Gemeinde stand, kann für Rom nicht vor den Jahren 140–150 angenommen werden. Erst seit der Jahrhundertmitte, also seit den Bischöfen Aniket (155–166) und Soter (166–175) kann dieses neue Amt auch in Rom zweifelsfrei vorausgesetzt werden. […] Die Konsequenzen für die Papstgeschichte liegen auf der Hand. Man kann für die Zeit vor 140/150 nicht von einzelnen, aufeinanderfolgenden Bischöfen Roms ausgehen, die sich als Päpste der Gesamtkirche verstehen konnten. Das Papsttum war folglich in der Frühzeit noch nicht vorhanden.19
5.2.3 Vergleich der Quellen der Apostolischen Sukzession
Wir wenden uns nun den Texten zu, die über die Nachfolger des Apostels Petrus als Bischof von Rom sprechen. Der erste dieser Texte bildet die Grundlage für die offizielle Liste der Päpste. Andere Texte zeigen aber ein anderes Bild.
5.2.3.1. Irenäus von Lyon (ca. 135 – ca. 200)
Weil es aber zu weitläufig wäre, in einem Werke wie dem vorliegenden die apostolische Nachfolge aller Kirchen aufzuzählen, so werden wir nur die apostolische Tradition und Glaubenspredigt der größten und ältesten und allbekannten Kirche, die von den beiden ruhmreichen Aposteln Petrus und Paulus zu Rom gegründet und gebaut ist, darlegen, wie sie durch die Nachfolge ihrer Bischöfe bis auf unsere Tage gekommen ist. […]
Nachdem also die seligen Apostel die Kirche gegründet und eingerichtet hatten, übertrugen sie dem Linus den Episkopat zur Verwaltung der Kirche. Diesen Linus erwähnt Paulus in seinem Briefe an Timotheus. Auf ihn folgt Anakletus. Nach ihm erhält an dritter Stelle den Episkopat Klemens, der die Apostel noch sah und mit ihnen verkehrte. Er vernahm also noch mit eignen Ohren ihre Predigt und Lehre, wie überhaupt damals noch viele lebten, die von den Aposteln unterrichtet waren. […]Auf genannten Klemens folgte Evaristus, auf Evaristus Alexander, als sechster von den Aposteln wurde Sixtus aufgestellt, nach diesem kam Telesphoros, der glorreiche Märtyrer, dann Hyginus, dann Pius, dann Anicetus. Nachdem dann auf Anicetus Soter gefolgt war, hat jetzt als zwölfter von den Aposteln Eleutherius den Episkopat inne. In dieser Ordnung und Reihenfolge ist die kirchliche apostolische Überlieferung auf uns gekommen, und vollkommen schlüssig ist der Beweis, dass es derselbe Leben spendende Glaube sei, den die Kirche von den Aposteln empfangen, bis jetzt bewahrt und in Wahrheit uns überliefert hat. (Irenäus von Lyon, Gegen die Häresien III,3,2–3)
Irenäus schrieb in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts gegen die damals auftretende Irrlehre der Gnosis. Er wollte durch die Liste der römischen Bischöfe darauf hinweisen, dass seine Kirche – im Gegensatz zu den Gnostikern – auf die Apostel zurückgeht.
In diesem berechtigten Anliegen setzte er sich aber über historische Fakten hinweg. Wie wir bereits weiter oben aufgezeigt haben, wurde die Gemeinde in Rom nicht von Petrus und Paulus gegründet. Möglicherweise hat Irenäus diese “Gründung” in einem sehr allgemeinen Sinn verstanden, nämlich dass Petrus und Paulus in der dortigen Gemeinde waren und dort auch ihr Leben beendet haben.
5.2.3.2 Tertullian (nach 150 – nach 220)
Wenn dagegen einige Häresien die Kühnheit haben, sich in das apostolische Zeitalter einzudrängen und deswegen von den Aposteln überliefert erscheinen wollen, weil sie zur Zeit der Apostel existierten, so können wir erwidern: Gebt also die Ursprünge eurer Kirchen an, entrollt eine Reihenfolge eurer Bischöfe, die sich von Anfang an durch Abfolge so fortsetzt, dass der erste Bischof einen aus den Aposteln oder den apostolischen Männern, jedoch einen solchen, der bei den Aposteln ausharrte, zum Gewährsmann und Vorgänger hat. Denn das ist die Weise, wie die apostolischen Kirchen ihren Ursprung nachweisen; wie z. B. die Kirche von Smyrna berichtet, dass ihr Polykarp von Johannes aufgestellt, die römische ebenso, dass ihr Klemens von Petrus ordiniert worden sei. (Tertullian, Die Prozesseinreden gegen die Häretiker – De praescriptione haereticorum 32)
Tertullian, ein Kirchenschriftsteller, der um 200 schrieb, hatte mit diesem Werk dasselbe Ziel wie Irenäus. Im Gegensatz zu diesem behauptete er jedoch, dass Klemens direkt von Petrus eingesetzt worden sei. Irenäus nennt Klemens nur als dritten nach Petrus.
5.2.3.3 Epiphanius von Salamis (gestorben 403)
Petrus setzte Klemens ein, der um des Friedens willen, seinen Platz Linus überließ. (Epiphanius, Haereses 27,6)
Hier gewinnen wir den Eindruck, dass sich Epiphanius der unterschiedlichen Angaben von Irenäus und Tertullian bewusst war und einen Lösungsansatz dazu bieten wollte.
5.2.3.4 Hieronymus (347 – 420)
Klemens […] war der vierte Bischof nach Petrus, der zweite war Linus, der dritte Anakletus, obwohl die Mehrheit der „Lateiner“ Klemens als den zweiten nach dem Apostel Petrus betrachten. (Hieronymus, De viris illustribus, 15)
Auch Hieronymus wusste im 4. / 5. Jahrhundert um die unterschiedlichen Überlieferungen.
5.2.3.5 Augustinus (354 – 430)
Dem Petrus folgte nämlich Linus, dem Linus Klemens, dem Klemens Anakletus, dem Anakletus Evaristus, dem Evaristus Alexander, dem Alexander Sixtus, dem Sixtus Telesphorus, dem Telesphorus Hyginus, dem Hyginus Anicetus, dem Anicetus Pius, dem Pius Soter, dem Soter Eleutherius, dem Eleutherius Viktor, dem Viktor Zephyrinus, dem Zephyrinus Kallistus, dem Kallistus Urbanus, dem Urbanus Pontianus, dem Pontianus Antherus, dem Antherus Fabianus, dem Fabianus Kornelius, dem Kornelius Lucius, dem Lucius Stephanus, dem Stephanus Sixtus, dem Sixtus Dionysius, dem Dionysius Felix, dem Felix Eutychianus, dem Eutychianus Kajus, dem Kajus Marcellinus, dem Marcellinus Marcellus, dem Marcellus Eusebius, dem Eusebius Melchiades, dem Melchiades Silvester, dem Silvester Markus, dem Markus Julius, dem Julius Liberius, dem Liberius Damasus, dem Damasus Siricius, dem Siricius Anastasius. (Augustinus, Briefe, Nr. 53 An Generosus, 2)
Die Bischofsliste des Augustinus reicht bis in seine Zeit. Was die ersten Bischöfe betrifft, so hat er auch nicht genau dieselbe Liste wie die anderen.
5.2.3.6 Zusammenschau
Irenäus |
Tertullian |
Epiphanius |
Hieronymus |
Augustinus |
|
---|---|---|---|---|---|
Petrus + Paulus | Petrus | Petrus | Petrus | Petrus | |
1. Linus | 1. Klemens | 1. Klemens | 1. Linus | 1. Klemens | 1. Linus |
2. Anakletus | 1a. Linus | 2. Anakletus | 2. Klemens | ||
3. Klemens | 3. Klemens | 3. Anakletus | |||
4. Evaristus | 4. Evaristus | ||||
5. Alexander | 5. Alexander | ||||
6. Sixtus | 6. Sixtus | ||||
7. Telesphorus | 7. Telesphorus | ||||
8. Hyginus | 8. Hyginus | ||||
9. Pius | 9. Anicetus | ||||
10. Anicetus | 10. Pius | ||||
11. Soter | 11. Soter | ||||
12. Eleutherius | 12. Eleutherius |
Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Traditionen betreffen vor allem die unmittelbare Nachfolge des Petrus. War nun Linus der erste Bischof von Rom nach Petrus oder war es Klemens? War Anakletus vor oder nach Klemens?
Wenn wir das Zeugnis der unter 5.2.2 aufgelisteten Dokumente berücksichtigen, lautet die Antwort, dass es nach dem Tod von Petrus überhaupt keinen monarchisches Bischof von Rom gab. Es gab damals mehrere Älteste, von denen wir manche – wie Klemens, Linus, Anakletus – namentlich kennen. Diese trugen gemeinsam mit anderen Ältesten die Hauptverantwortung für die Gemeinde in Rom. Als dann im Laufe des zweiten Jahrhunderts das monarchische Bischofsamt auch in Rom eingeführt wurde, hat man versucht, die Namen dieser Ältesten, die zugleich gewirkt haben, in eine zeitliche Reihenfolge zu pressen, sodass man nunmehr dachte, dass sie aufeinanderfolgten. Es gab dabei offensichtlich Meinungsunterschiede, wer nun der erste Bischof von Rom gewesen sei. Hätte es tatsächlich unmittelbar nach dem Tod des Petrus einen Bischof von Rom gegeben, dann würden die Quellen übereinstimmen.
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- Apostelgeschichte 1,15–26. ↩
- Apostelgeschichte 6,1–6. ↩
- Apostelgeschichte 8,4–5. ↩
- Apostelgeschichte 10,1,-11,18. ↩
- Apostelgeschichte 15,1–21. ↩
- In der Bibel wird das nicht ausdrücklich erwähnt. Aber Petrus selber ermahnte in 1. Petrus 3,8–11 seine Leser dazu, eines Sinnes zu sein und dem Frieden nachzujagen. Petrus hat mit diesen Worten nicht nur andere belehrt, sondern selber nach diesem Grundsatz gelebt. ↩
- Vergleiche Apostelgeschichte 2,10. ↩
- Apostelgeschichte 12,1–19. ↩
- Apostelgeschichte 12,17. ↩
- Apostelgeschichte 28,14–31. ↩
- Apostelgeschichte 12,1–2. ↩
- Wir halten an der Echtheit des 2. Petrusbriefes fest. Falls dieser Brief, wie vielfach behauptet wird, nicht von Petrus stammen sollte, würde unsere Argumentation in diesem Fall sogar noch verstärkt, da der Text voraussetzen würde, dass es auch Jahre bzw. Jahrzehnte nach dem Tod von Petrus keinen Nachfolger von Petrus gab. Hätte zur Zeit der Niederschrift des 2. Petrusbriefes schon die Institution des Papsttums gegeben, in der ganz klar war, wer der Nachfolger von Petrus ist, hätte der Fälscher dieses Briefes darauf hingewiesen, dass sich die Gläubigen nach dem Tod des Petrus an den jeweiligen Bischof von Rom wenden können. ↩
- Siehe dazu: https://www.christen.info/aemter-und-aufgaben-in-der-kirche/#3‑die-nachapostolische-kirchenstruktur. ↩
- Wie auch im Neuen Testament: Apostelgeschichte 17,28; Titus 1,3–5. ↩
- Die Datierungsvorschläge schwanken zwischen „vor 85“ und 140–155. ↩
- Heute Antakya in der Türkei. ↩
- Diese Erklärung geht von der Echtheit der Ignatiusbriefe aus. Manche gehen davon aus, dass diese Briefe das Werk eines Fälschers seien. Dadurch würde sich die Einführung des monarchischen Bischofsamtes noch um einige Jahrzehnte verschieben. ↩
- Manche datieren dieses Schreiben früher als Brox (siehe Punkt 5.2.2.2), was an der grundsätzlichen Argumentation nichts ändert. Nur die von ihm genannten Jahreszahlen sind möglicherweise etwas früher anzusetzen. ↩
- Norbert Brox, Das Papsttum in den ersten drei Jahrhunderten; in: Das Papsttum I. Von den Anfängen bis zu den Päpsten in Avignon; Hsg. M. Greschat, Stuttgart 1984, S. 29 ↩