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Für das richtige Verständnis der Lehre Jesu ist es von größter Bedeutung, richtig zu erfassen, was die Heilige Schrift über seine Person aussagt. In diesem Abschnitt zeigen wir aufgrund von Textbeispielen, wie in der NWÜ Aussagen von und über Jesus wiedergegeben werden, um die Lehre von der Gottheit Jesu als falsch zu erweisen.
5 Wer ist Jesus?
Die Frage nach der Person Jesu ist eine Kernfrage des Christentums und auch der Punkt, in dem sich die Zeugen Jehovas deutlich von den meisten sich christlich nennenden Gruppierungen unterscheiden. Ist Jesus der wesensgleiche Sohn Gottes oder ist er der Erzengel Michael1, der Mensch wurde, nach seinem Tod und seiner Auferstehung wieder als Geistwesen (nicht als Mensch!) im Himmel ist.2 Im Lichte dieser lehrmäßigen Sonderstellung sind auch einige Textbeispiele aus der NWÜ zu betrachten.3
5.1 „Urheber” oder „Hauptvermittler”?
Apostelgeschichte 3,15:
NWÜ: wogegen ihr den Hauptvermittler des Lebens getötet habt. Gott aber hat ihn von den Toten auferweckt, von welcher Tatsache wir Zeugen sind.
KIT:
ELB: den Fürsten4 des Lebens aber habt ihr getötet, den Gott aus den Toten auferweckt hat, wovon wir Zeugen sind
Apostelgeschichte 5,31:
NWÜ: Diesen hat Gott als Hauptvermittler und Retter zu seiner Rechten erhöht, um Israel [Gelegenheit zur] Reue und Vergebung der Sünden zu geben.
KIT:
ELB: Diesen hat Gott durch seine Rechte zum Führer5 und Retter erhöht, um Israel Buße und Vergebung der Sünden zu geben.
An diesen beiden Stellen gibt die NWÜ das griechische Wort archegós (ebenso wie in den beiden hier nicht angeführten Stellen Hebräer 2,10; 12,26) mit „Hauptvermittler“ wieder. Die Elberfelder Bibel verwendet in den beiden Stellen der Apostelgeschichte „Führer“, verweist aber in der Fußnote auf die möglichen Übersetzungen „Anfänger, Urheber, Begründer“. In Hebräer 2,10 verwendet die ELB „Urheber“, in Hebräer 12,2 „Anfänger“. Walter Bauers Wörterbuch zum Neuen Testament bietet folgende Übersetzungen des Wortes archegós an: 1. Führer, Herrscher, Fürst; 2. Anfänger, der als erster eine Reihe mit etwas beginnt; 3. Urheber, Begründer.7 Das von der NWÜ verwendete Wort „Hauptvermittler“ findet sich nicht darunter. „Mittler“ heißt auf Griechisch mesites. Dieses Wort findet sich an den angeführten Stellen nicht. Das gewählte Wort „Hauptvermittler“ wurde offensichtlich nicht aus sprachlichen Gründen, sondern aus dogmatischen Überlegungen heraus verwendet. Die KIT bleibt mit der Form „Chief Leader“ (= „Hauptführer, Oberführer“) im Rahmen der von Walter Bauer vorgeschlagenen Wiedergaben. Allerdings ergeben die Formulierungen „Hauptführer des Lebens“ (Apostelgeschichte 3,15) oder „Hauptführer und Vollkommener unseres Glaubens“ (Hebräer 12,2) nicht viel Sinn, weswegen man sich dann, um jeden möglichen Hinweis auf die göttliche Natur Jesu, der der Urheber des Lebens8 ist, zu vermeiden, zu einer Wiedergabe, die dem griechischen Text NICHT entspricht, entschlossen hat.
Es ist nun einmal ein großer Unterschied zwischen dem Urheber einer Sache und demjenigen, der diese Sache vermittelt. Man könnte etwa Einstein als den „Urheber“ der Relativitätstheorie bezeichnen. Die Aufgabe, diese Theorie den Schülern zu vermitteln, fällt jedem Physiklehrer zu.
Der Begriff „Hauptvermittler“ führt auch zu dem Gedanken, dass es neben dem „Hauptvermittler“ auch noch andere „Vermittler“, wie vor allem den „Kanal Gottes“, die Wachtturmgesellschaft, geben muss.
Hebräer 5,9:
NWÜ: […] und nachdem er vollkommen gemacht worden war, wurde er für die ewige Rettung all derer verantwortlich, die ihm gehorchen, […]
KIT:
ELB: […] und vollendet ist er allen, die ihm gehorchen, der Urheber ewigen Heils geworden, […]
Das griechische Substantiv aitios bedeutet nach Walter Bauer „Urheber“.9 Das klingt auch noch in der KIT an, die aitios mit „(one) causing“ („jemand, der verursacht“) wiedergibt. Gewiss ist ein Urheber für alles, was er verursacht, verantwortlich. Insofern trifft es zu, dass Jesus für unsere Rettung verantwortlich ist. Aber nicht jeder, der für etwas verantwortlich ist, ist auch dessen Verursacher. Die NWÜ versucht also auch hier, die Stellung Jesu abzuschwächen.
5.2 Gottheit oder göttliche Wesensart?
Kolosser 2,9:
NWÜ: denn in ihm wohnt die ganze Fülle der göttlichen Wesensart körperlich.
KIT:
ELB: Denn in ihm wohnt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig;
Hier übersetzt die KIT „divinity“ („Göttlichkeit, Gottheit“), und auch die NWÜ weist in einer Fußnote darauf hin, dass hier wörtlich „Göttlichkeit“ steht. Warum kann man dieses Wort dann nicht gleich in den Text nehmen? Warum muss man diesen klaren Hinweis auf die göttliche Natur durch eine verschwommene Aussage wie „göttliche Wesensart“ verdunkeln?
5.3 War das Wort Gott oder ein Gott?
Johannes 1,1:
NWÜ: Im Anfang war das WORT, und das WORT war bei GOTT, und das WORT war ein Gott.10
KIT:
ELB: Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.
Dieser Vers ist gewiss eine der wichtigsten Stellen im Zusammenhang mit der Lehre über die Gottheit Jesu Christi und damit auch der Dreieinigkeit. Deswegen beschäftigt sich auch die Studienbibel der Zeugen Jehovas in einem Anhang ausführlich mit dieser Stelle. Die Erklärung versucht durch Auflistung verschiedener Übersetzungen, in denen das zweite theos nicht als „Gott“, sondern als „göttlichen Wesens, göttlicher Art“ oder „ein Gott“ wiedergegeben wird. Darauf folgt eine Abhandlung zum Thema „singularisches Prädikatsnomen“, in der anhand verschiedener Beispiele aufzuzeigen versucht wird, dass der unbestimmte Artikel „ein“ doch gerechtfertigt ist. In den angeführten Beispielen geht es darum, dass jemand „ein Prophet“ (Markus 11,32; Johannes 4,19; 9,17), „ein Verleumder“ (Johannes 6,70), „ein Lügner“ (Johannes 8,44) usw. ist. Es ist hierbei aber darauf hinzuweisen, dass zwischen dem Wort „Gott“ und allen anderen Wörtern ein großer Unterschied besteht: Für Monotheisten ist klar, dass es nur einen einzigen Gott gibt. Als Jude und Jünger Jesu war auch der Evangelist Johannes ein Monotheist. Wenn er nun gemeint hätte, dass der Logos ein Gott neben anderen sei, dann hätte er hier gegen seine monotheistische Grundüberzeugung geschrieben. Wenn Jehovas Zeugen darauf hinweisen, dass es Übersetzungen gibt, die dem Wort „göttliches Wesen“ zuschreiben, so ist dazu zu sagen, dass zwischen den Übersetzungen, dass das Wort ein göttliches Wesen hatte und dass es Gott war, für einen Monotheisten kein inhaltlicher Unterschied besteht. Wenn es nur einen einzigen Gott gibt, dann ist ein jemand, der göttlichen Wesens ist, Gott. Also bestätigt auch die Wiedergabe mit „göttlichem Wesen“ die Lehre der Gottheit Jesu.
In dem erwähnten Anhang wird auch ein Artikel von Philip B. Harner folgendermaßen zitiert:
[…] daß derartige Nebensätze, wie der in Joh 1:1, „mit einem artikellosen Prädikat vor dem Verb in erster Linie eine Eigenschaftsbezeichnung darstellen. Sie zeigen, daß der logos die Natur des theos hat. Es gibt keine Grundlage dafür, das Prädikat theos als bestimmt aufzufassen.“
Genau das ist der Glaube, der von den Zeugen Jehovas verworfen wird. Der Logos hat die Natur des Theos. Wenn das Wort die Natur Gottes hat, ist es Gott. Es hat dieselbe göttliche Natur wie der Vater, ohne mit dem Vater identisch zu sein. Würde hier mit Artikel stehen: „Das Wort war der Gott.“, dann würde gesagt, dass das Wort der Vater wäre, da gerade zuvor ausgedrückt wird, dass das Wort bei „dem Gott“, d. h., beim Vater war. Die Identität des Wortes mit dem Vater will aber gerade nicht ausgedrückt werden, sondern deren Wesensgleichheit.
Es gibt zahlreiche Stellen im Neuen Testament, in denen das griechische Wort theós („Gott“) ohne Artikel steht und den wahren Gott meint, etwa in Matthäus 6,24; 19,26; und vor allem im Johannesprolog selbst: Johannes 1,12.13.18.
Johannes 1,12 lautet auch in der NWÜ: So viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Befugnis, Kinder Gottes zu werden. Es steht hier nicht: Kinder eines Gottes zu werden.
Im Zusammenhang mit Johannes 1 sollte auch als Positivum erwähnt werden, dass die NWÜ Vers 18 korrekt übersetzt:11
Kein Mensch hat GOTT jemals gesehen; der einziggezeugte Gott, der am Busen[platz] beim Vater ist, der hat über ihn Aufschluß gegeben.
Die NWÜ nennt Jesus „einziggezeugter Gott“. Hier ist nicht die Übersetzung das Problem, sondern die Interpretation. Da es nur einen einzigen Gott gibt, ist auszuschließen, dass Johannes lehren wollte, dass JHWH einen anderen Gott hervorgebracht habe. „Zeugen“ ist etwas anderes als „schaffen“. Der Bildhauer, der eine Statue „schafft“, bringt ein Kunstwerk hervor, das anderen Wesens als er selber ist, selbst wenn sie dem Künstler sehr ähnlich sehen sollte. Wenn derselbe Künstler einen Sohn zeugt, dann hat der Sohn dasselbe Wesen wie der Vater. Er ist ein Mensch. Der „einziggezeugte Gott“ hat nun auch dasselbe Wesen wie sein Vater: Er ist Gott. Da es aber nur einen einzigen Gott gibt, entstehen durch die Zeugung nicht zwei Götter. Die „Zeugung“ Gottes ist ein Vorgang, der innerhalb des Wesens des einen wahren Gottes geschieht. Da Gott ewig und nicht der Zeit unterworfen ist, ist die göttliche Zeugung als etwas, was in Gott geschieht, auch ewig. Deswegen ruht der „einziggezeugte Gott“ am „Busenplatz beim Vater“. Er ist für alle Ewigkeit untrennbar mit ihm verbunden.
Es gibt auch den Vorschlag, das griechische Wort monogenes nicht mit „einziggezeugt“, sondern nur mit „einzig“ wiederzugeben. In diesem Fall würde der Text so lauten:
[…] der einzige Gott, der am Busen[platz] beim Vater ist […]12
In diesem Fall wäre die Wesensgleichheit zwischen dem Vater und dem Sohn noch stärker betont. Aber auch bei der von der NWÜ gewählten Wiedergabe mit „einziggezeugt“ ist die Wesengleichheit des Sohnes mit dem Vater ersichtlich.
5.4 Jesus vor Abraham
Johannes 8,58:
NWÜ: Jesus sprach zu ihnen: „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham ins Dasein kam, bin ich gewesen.“
KIT:
ELB: Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ehe Abraham war, bin ich.
Im Hintergrund dieser Änderung von „Ich bin“ zu „Ich bin gewesen“ ist die Lehre der Wachtturmgesellschaft über die Person Jesu zu sehen. Die Zeugen Jehovas glauben, dass Jesus der Erzengel Michael sei, und als solcher schon vor Abraham existiert hat. Sie bestreiten aber, dass Jesus der ewige Sohn Gottes ist. Die Worte „Ich bin“ in diesem Satz drücken die Überzeitlichkeit, ja Ewigkeit seines Wesens aus. Deswegen übersetzt die NWÜ hier nicht wortgetreu, sondern „[…] bin ich gewesen.“
Die KIT gibt korrekt wieder: „I am.“ („Ich bin.“) Zur Rechtfertigung der Textänderung gibt es in der Studienausgabe einen umfangreichen Appendix. Dort wird zuerst auf Übersetzungen ins Syrische, Georgische und Äthiopische und anschließend auf einige nicht texttreue Ausgaben des Neuen Testaments „in der Sprache der Gegenwart“ verwiesen, die ähnlich wie die NWÜ übersetzt haben. Unter Berufung auf die Grammatiken von Winer (1867) und Moulton und Turner (1963) wird erklärt, dass hier eine Handlung vorliege, die vor Abraham begann, aber noch andauere. Als Beispiele dieser Syntax werden Lukas 2,48; 13,7; 15,29; Johannes 5,6; 14,9; 15,27; Apostelgeschichte 15,21; 2 Korinther 12,19 und 1. Johannes 3,8 angeführt.
Hierzu ist festzuhalten:
Die Frage, ob es sich in Johannes 8,58 um eine in der Vergangenheit begonnene Handlung handelt, die in der Gegenwart noch andauert (kurz PPA für „Present of past action still in progress“) handelt, ist zumindest umstritten. Viele Fachleute denken nicht so.13 Im Normalfall eines PPA würde der Adverbialsatz14 die Zeitdauer der Aktion des Verbs ausdrücken („Seit Johannes getauft hat, bin ich bei euch.“) In diesem Fall weist die Zeitbestimmung auf einen Zeitpunkt hin an dem die durch das Verb ausgedrückte „Handlung“ begonnen hat. In Johannes 8,58 aber weist der Adverbialsatz auf eine Zeit hin, vor welcher die „Handlung“ liegt.15 Johannes 8,58 erinnert eher an die Formulierung von Psalm 90,2:
Ehe selbst die Berge geboren wurden Oder du darangingst, wie mit Geburtswehen die Erde und das ertragfähige Land hervorzubringen, Ja von unabsehbarer Zeit bis auf unabsehbare Zeit bist du Gott. (NWÜ)
Der Septuagintatext lautet (wie im Deutschen, auch in der NWÜ) „du bist“. Der Präsens des Wortes „sein“ drückt hier die Ewigkeit aus. Die Parallele zwischen „Ehe Abraham ins Dasein kam […]“ und „Ehe selbst die Berge geboren wurden […]“ ist auffällig.
Es ist auch zu beachten, dass wir im selben Kapitel (Johannes 8) in den Versen 24 und 28 die Formulierung ego eimi („ich bin“) im Munde Jesu finden:
Daher sagte ich euch, dass ihr in euren Sünden sterben werdet; denn wenn ihr nicht glauben werdet, dass ich (es) bin, so werdet ihr in euren Sünden sterben. (Johannes 8,24)
Da sprach Jesus zu ihnen: Wenn ihr den Sohn des Menschen erhöht haben werdet, dann werdet ihr erkennen, dass ich (es) bin und dass ich nichts von mir selbst tue, sondern wie der Vater mich gelehrt hat, das rede ich. (Johannes 8,28)
Das Wörtchen „es“ findet sich nicht im griechischen Text. Wörtlich steht hier: „[…] dass ich bin […]“ An dem Glauben, dass Jesus „ist“ hängt sehr viel. Wer das nicht glaubt, wird in seinen Sünden sterben. Es geht hier also nicht allein um die Erkenntnis, dass Jesus existiert. Das wäre rein historisches Wissen. Diese beiden Verse können uns helfen, zu verstehen, dass Jesus mehr sagen wollte, als dass er existierte.
Wir dürfen auch davon ausgehen, dass die griechischen „Kirchenväter“ ein grammatikalisch korrektes Verständnis ihrer Muttersprache hatten. Johannes Chrysostomos betont in seiner 55. Homilie über das Johannesevangelium16, dass Jesus „Ich bin“ sagte und nicht „Ich war“. Er hat in Johannes 8,58 kein PPA gesehen, sondern eine Aussage, die Jesus in Parallele zum Vater stellt.
Auch die frühen Übersetzungen des Neuen Testament haben die Aussage Jesu im Präsens wiedergegeben. Die alten syrischen Texte bieten die Version ana itj, was dem griechischen Präsens entspricht. Nur eine Handschrift aus dem 12. Jahrhundert hat eine Version, die dem griechischen Imperfekt entspricht. Auch die lateinischen Übersetzungen (sowohl Vetus Latina als auch Vulgata) und die koptische Übersetzung übersetzen mit „Ich bin“. Selbst die vom arianischen17 Bischof Wulfila erstellte gotische Bibel gibt den griechischen Text mit „ich bin“ (im ik)18 wieder. Wenn das Griechische die Wiedergabe mit „ich war“ erlaubt hätte, hätte Wulfila wohl die seiner arianischen Lehre entsprechende Formulierung gewählt. Bei der Übersetzung ins Georgische ist die Situation auch nicht so einfach, wie es die Zeugen Jehovas ausdrücken. Zwei von drei Codizes übersetzen mit „ich bin“ (Codex Opizae und Codex Tbet‘), einer (Codex Adysh) mit „ich bin gewesen.“
Leider ist es für uns nicht möglich, den genauen aramäischen oder hebräischen Wortlaut dieser Worte Jesu zu wissen, da Johannes sie auf Griechisch überliefert hat.19 Wir können aber aus der Reaktion der jüdischen Gegner Jesu sehen, wie diese Jesu Worte verstanden haben. Sie sahen in diesen Worten offensichtlich eine Gotteslästerung und drückten ihre Empörung darüber durch das Androhen der Steinigung aus (Johannes 8,59).
Johannes hat durch den Heiligen Geist erkannt, dass Jesus hier nicht nur sagen wollte, dass er bereits vor Abraham gewesen ist, sondern, dass er IST. Er steht in seinem göttlichen Wesen über der Zeit. Diese klare Aussage Jesu ist in der NWÜ nicht mehr zu finden.
5.5 Hat der Sohn alles oder „alle anderen Dinge” erschaffen?
Kolosser 1,15–17:
NWÜ: Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung; denn durch ihn sind alle [anderen] Dinge in den Himmeln und auf der Erde, die sichtbaren und die unsichtbaren, erschaffen worden, es seien Throne oder Herrschaften oder Regierungen oder Gewalten. Alle [anderen] Dinge sind durch ihn und für ihn erschaffen worden. Auch ist er vor allen [anderen] Dingen, und durch ihn sind alle [anderen] Dinge gemacht worden, um zu bestehen,
KIT:
ELB: Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung. Denn in ihm ist alles in den Himmeln und auf der Erde geschaffen worden, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Gewalten oder Mächte: Alles ist durch ihn und zu ihm hin geschaffen; und er ist vor allem, und alles besteht durch ihn.
Die NWÜ hat hier viermal in eckigen Klammern20 das Wort „andere“ eingefügt. Dadurch soll der Eindruck erweckt werden, dass Jesus auch einer der Geschaffenen ist. Zuerst habe Jehova Jesus (der mit dem Erzengel Michael gleichgesetzt wird) erschaffen, anschließend durch ihn alle anderen Dinge. Erfreulicherweise ist die NWÜ doch nicht so konsequent, um in anderen Stellen, die vom Schaffen des Sohnes sprechen, diese Ergänzung einzufügen. So bleiben folgende Stellen noch eindeutig. Wir zitieren hier nur die NWÜ:
Johannes 1,3: Alle Dinge kamen durch ihn ins Dasein, und ohne ihn kam auch nicht e i n Ding ins Dasein.
1. Korinther 8,6: so gibt es für uns tatsächlich e i n e n GOTT, den Vater, aus dem alle Dinge sind und wir für ihn; und es gibt e i n e n Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Aussage von Jesaja 44,24, dass die Schöpfung allein Gottes Werk ist, ohne die Assistenz von irgendjemand anderem:
Dies ist, was Jehova gesagt hat, dein Rückkäufer und dein Bildner vom Mutterleib an: „Ich, Jehova, tue alles, indem ich allein die Himmel ausspanne, die Erde ausbreite. Wer war bei mir? (NWÜ)
Gott allein ist der Schöpfer. Wenn Johannes und Paulus bezeugen, dass die Welt durch den Sohn Gottes geschaffen wurde, dann kann man das im Lichte von Jesaja 44,24 nur so verstehen, dass der Sohn Gottes Gott ist. Außer Gott war niemand anderer bei ihm!
Zur Rechtfertigung des in Kolosser 1,16 eingefügten Wortes „andere“ verweist die NWÜ in einer Anmerkung auf eine parallele Formulierung in Lukas 11,41–42:
NWÜ: Gebt jedoch als Gaben der Barmherzigkeit die Dinge, die darin sind, und siehe, alle [anderen] Dinge an euch sind rein. Wehe aber euch, ihr Pharisäer, denn ihr gebt den Zehnten von der Minze und der Raute und von jedem [anderen] Gartengewächs, übergeht aber das Recht und die Liebe Gottes! Diese Dinge wart ihr zu tun verpflichtet, doch jene anderen Dinge solltet ihr nicht unterlassen.
KIT:
ELB: Gebt jedoch als Almosen, was darin ist, und siehe, alles ist euch rein. Aber wehe euch Pharisäern! Denn ihr verzehntet die Minze und die Raute und alles Kraut und übergeht das Gericht und die Liebe Gottes; diese Dinge hättet ihr tun und jene nicht lassen sollen.
An dieser Stelle ist es nicht notwendig, das Wort „alles“ durch den Zusatz „andere“ zu ergänzen. Denn auch die „Dinge, die darin sind“ werden durch das Almosengeben gereinigt. Um die Sache zu verkomplizieren, verändert die NWÜ „Alles ist euch rein“ in: „Alle anderen Dinge an euch sind rein“. Ein Blick auf die KIT offenbart diese Manipulation. Im Interlineartext wird „to you“ („für euch“) übersetzt. Im Text am Rand steht: „about you“ („über euch“ – in der deutschen Version mit „an euch“ wiedergegeben). Es ist auch kein Problem, die Minze und die Raute in „alles Kraut“ einzuschließen. Der Unterschied zwischen Lukas 11 und Kolosser 1 besteht darin, dass im Kolosserbrief zuerst jemand da ist, durch den etwas an allem geschieht, nämlich die Schöpfung, während in Lukas 11 die vorher und nachher genannten Dinge auf derselben Ebene liegen.
In diesem Zusammenhang wollen wir auch auf den Ausdruck „Erstgeborener aller Schöpfung“ in Kolosser 1,15 eingehen. Zeugen Jehovas verstehen diesen Ausdruck so, dass Jesus das erste Geschöpf Gottes sei, durch das Jehova dann alles andere geschaffen habe. Das Problem an dieser Interpretation ist, dass Jesus sonst nie als Geschöpf Gottes bezeichnet wird. Er ist das Wort Gottes, der Sohn Gottes. Wir haben schon unter Punkt 5.3 auf den wesentlichen Unterschied zwischen „zeugen“ und „schaffen“ hingewiesen. Dieser Unterschied ist auch beim Verständnis von Kolosser 1,15 zu berücksichtigen. Als Erstgeborener ist er kein Teil der Schöpfung. Der griechische Genitiv erlaubt auch die Übersetzung „der Erstgeborene vor aller Schöpfung“, wie wir sie in der Lutherbibel finden oder „der Erstgeborene, der über aller Schöpfung ist“ (Schlachter 2000).21 Dieses Verständnis, dass der Sohn vor oder über aller Schöpfung steht, wird durch die Verse 16 und 17, denen zufolge alles in ihm geschaffen wurde, bestätigt.
5.6 Ist Gott der Thron des Sohnes?
Hebräer 1,8:
NWÜ: Aber mit Bezug auf den Sohn: „Gott ist dein Thron für immer und ewig, und [das] Zepter deines Königreiches ist das Zepter der Geradheit. […]
KIT:
ELB: von dem Sohn aber: „Dein Thron, Gott, ist von Ewigkeit zu Ewigkeit, und das Zepter der Aufrichtigkeit ist Zepter deines Reiches; […]
Wäre Gott der Thron des Sohnes, dann würde das bedeuten, dass der Sohn größer ist als Gott, da ja der auf dem Thron Sitzende bedeutender ist als der Thron. Im Griechischen steht hier der Nominativ, der aber im Bibelgriechisch auch für den Vokativ22 stehen kann, wie es etwa auch in Hebräer 10,7, der Fall ist, wo auch die NWÜ als Anrede übersetzt.
Es scheint hier den Übersetzern so wichtig gewesen zu sein, dass Jesus nicht als Gott angesprochen wird, dass sie zu einer Formulierung Zuflucht genommen haben, die logisch durchdacht, sogar bedeuten würde, dass der Sohn größer ist als Gott, was natürlich nicht sein kann.
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Teil 1
Teil 3
- In Zion’s Watch Tower vom November 1879, S. 48 schrieb C. T. Russell aber noch eindeutig: Michael ist nicht der Sohn Gottes. ↩
- Vergleiche dazu: Einsichten über die Heilige Schrift, Band 2, Seite 351–352; Was lehrt die Bibel wirklich, 2005, S. 218–219; Wer ist Jesus Christus? ↩
- Mehr zur Frage der Gottheit Jesu ist in einer eigenen Abhandlung nachzulesen. ↩
- Elberfelder Fußnote dazu: o. Anfänger, Urheber, Begründer. ↩
- In ELB selbe Fußnote wie bei 3,15. ↩
- Hier findet sich allerdings die Fußnote: Wtl.: „Oberanführer (Hauptanführer)“. Gr.: archēgón. ↩
- Bauer, Sp. 225. ↩
- So die Einheitsübersetzung in Apostelgeschichte 3,15. ↩
- Bauer, Sp. 50. ↩
- Die englische Ausgabe von 2013 merkt in der Fußnote an: Or „was divine.“ (war göttlich.) ↩
- Zumindest im Deutschen, wo Substantive groß geschrieben werden müssen. Im Englischen wird „god“ in „the only‐begotten god“ mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben. Da das im Deutschen nicht möglich ist, wird das Wort Gott, wo es sich auf den Vater bezieht, deshalb nur mit Großbuchstaben geschrieben, um den Gedanken, dass Vater und Sohn dasselbe Wesen haben könnten, abzuwehren. ↩
- Vergleiche die Einheitsübersetzung: Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht. ↩
- Eine umfangreiche englischsprachige Diskussion zur Übersetzung von Johannes 8,58 ist unter http://www.forananswer.org/Mars_Jw/JB-RB.Jn8_58.Index.htm abrufbar. ↩
- Ein Adverbialsatz ist ein Gliedsatz, der den Umstand (wie hier die Zeit) angibt, unter dem das Geschehen im Hauptsatz verläuft. ↩
- Im Normalfall eines PPA müsste die Formulierung etwa so lauten: Seit Abraham wurde […] ↩
- Der englische Text ist unter http://www.newadvent.org/fathers/240155.htm zu finden. „Aber warum sagte er nicht ‚Bevor Abraham war, war ich.‘ statt ‚bin ich‘? So wie der Vater diesen Ausdruck ‘Ich bin’ verwendet, so auch Christus, denn es bezeichnet beständiges Sein, unabhängig von aller Zeit.“ ↩
- Die Arianer lehnten die Lehre von der göttlichen Natur Jesu Christi ab. ↩
- http://www.wulfila.be/gothic/browse/token/?ID=T7182 ↩
- Möglich wäre, dass Jesus eine Formulierung verwendet hat, die die jüdischen Gegner an die Worte Gottes an Mose in 2. Mose 3,14 Ich bin der ich bin. (ELB) oder Ich werde mich erweisen, als was ich mich erweisen werde. (NWÜ) erinnert hat. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Jesus die Formulierung ani hu (wörtlich: „ich er“) verwendet hat, wie wir sie in Jesaja 43,10 finden, wo wir in der schon vor Christus entstandenen griechischen Übersetzung, der Septuaginta, dieselben Worte ego eimi wie in Johannes 8,58 finden: Ihr seid meine Zeugen, spricht der HERR, und mein Knecht, den ich erwählt habe, damit ihr erkennt und mir glaubt und einseht, dass ich es bin. Vor mir wurde kein Gott gebildet, und nach mir wird keiner sein. ↩
- In der englischen Ausgabe von 2013 wurden hier die eckigen Klammern entfernt. ↩
- Schlachter 2000 merkt an: w. der Erstgeborene aller Schöpfung; d. h., Christus hat den Vorrang gegenüber der ganzen Schöpfung. ↩
- Anredefall. ↩