Prädestination (Vorherbestimmung)

1 Verschiedene Auslegungsmöglichkeiten

Das Wort „Prädestination“, das auch in der Bibel vorkommt, wird auf zwei verschiedene Weisen verstanden.

  • Erstens Prädestination auf der Basis von Vorherwissen. Prädestination ist der von Ewigkeit her gefasste, aus Liebe erwachsene Beschluss Gottes, mit dem er eine geschichtliche Heilsordnung festlegt, um allen Menschen das ewige Heil zu ermöglichen. Gott hat vorherbestimmt, dass Jesus der einzige und absoluter Mittler zu Gott ist.
  • Zweitens ist es der Glaube, dass der souveräne Gott über Heil und Unheil des Menschen entscheidet und dabei den Willen unbeachtet lässt. Der Mensch kann an dieser Entscheidung Gottes nichts ändern. Innerhalb dieses Verständnisses gibt es zwei Denkrichtungen: Die „einfache Prädestination“, an die einige Lutheraner glauben, und die „doppelte Prädestination“, von den Calvinisten geglaubt.

Die einfache Prädestination heißt, dass Gott im Vorhinein die erwählt, die zu ihm kommen werden.

Doppelte Prädestination bedeutet, dass Gott im Vorhinein die erwählt, die zum Himmel oder zur Hölle bestimmt sind.

Im Rest dieser Abhandlung wird das Wort „Prädestination“ in dieser zweiten Weise verwendet. 

Innerhalb des zweiten Verständnisses gibt es drei Hauptvertreter:

1.1 Augustinus (354–430)

Augustinus war der Erste, der eine systematische Lehre der Prädestination entwickelte. Er sah sich gezwungen, den Gedanken der unverdienten und willkürlichen Gnade Gottes zu verteidigen; dies führte ihn dazu, die Lehre der Prädestination zu entwickeln. In „Ad Simplicianum“ beschreibt er seine Gedanken über Römer 5,12 und Kapitel 9.

Zu allererst existiert der Plan Gottes und entsprechend seines Planes erwählt er … (Ad Simplicianum I, 2,6)1

Des Weiteren erklärt er, dass Gott so viele Menschen für sein Reich bestimmt, wie Engel vom Glauben abfielen. (Glaube, Hoffnung und Liebe / Enchiridion de fide, spe et caritate / IX, 29)

1.2 Luther (1483–1546)

Luther, der ein Mönch des Augustinerordens war, baute auf die Lehre von Augustinus auf und entwickelte diese – mehr als tausend Jahre später – weiter. In seinem berühmtesten Werk „Vom unfreien Willen“ schreibt er:

Denn wenn wir glauben, es sei wahr, dass Gott alles vorherweiß und vorherordnet, dann kann er in seinem Vorherwissen und in seiner Vorherbestimmung weder getäuscht noch gehindert werden, dann kann auch nichts geschehen, wenn er es nicht selbst will. Das ist die Vernunft selbst gezwungen zuzugeben, die zugleich selbst bezeugt, dass es einen freien Willen weder im Menschen noch im Engel, noch in sonst einer Kreatur geben kann.2

1.3 Calvin (1509–1564)

Calvins Lehre gewann durch die Anerkennung seiner Lehre auf der Synode von Dordrecht (1618/1619) in den Niederlanden viel Einfluss. Dort wurde sie zur offiziellen Lehre der Reformierten.

Unter Vorherbestimmung verstehen wir Gottes ewige Anordnung, vermöge deren er bei sich beschloß, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte! Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdamnis vorher zugeordnet. (Institutio Christianae Religionis 3.21.5)3

2 Das biblische Verständnis

Gott ist ewig. Er ist nicht wie Menschen an die Zeit gebunden. Für ihn ist alles Gegenwart. Weil er weiß, wer sich für ihn entscheiden wird, kann er auch Menschen erwählen und dazu bestimmen, seine gehorsamen Kinder zu werden …

Denn die er vorher erkannt hat, die hat er auch vorherbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Die er aber vorherbestimmt hat, diese hat er auch berufen; und die er berufen hat, diese hat er auch gerechtfertigt; die er aber gerechtfertigt hat, diese hat er auch verherrlicht. (Römer 8,29–30)

Beide Verse gehören inhaltlich zusammen. In Vers 29 wird ausgedrückt, dass Gott entsprechend seines Vorherwissens erwählt. Das heißt, dass Gott nicht willkürlich, sondern aufgrund der Entscheidung der Menschen, die er schon vorher kennt, erwählt.

Petrus, Apostel Jesu Christi, den Fremdlingen von der Zerstreuung von Pontus, Galatien, Kappadozien, Asien und Bithynien, die auserwählt sind nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters, in der Heiligung des Geistes zum Gehorsam … (1. Petrus 1,1–2)

Gott würde gern alle Menschen erwählen und retten, um mit ihnen auf ewig zusammen sein zu können, aber er zwingt niemanden dazu, mit ihm eine Beziehung einzugehen.

Dies ist gut und angenehm vor unserem Heiland‐Gott, welcher will, dass alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. (1. Timotheus 2,3–4)

Der Herr verzögert nicht die Verheißung, wie es einige für eine Verzögerung halten, sondern er ist langmütig euch gegenüber, da er nicht will, dass irgendwelche verloren gehen, sondern dass alle zur Buße kommen. (2. Petrus 3,9)

In der Bibel finden wir eindeutige Stellen dafür, dass es Gottes Wille ist, dass jeder gerettet wird, aber dass Menschen den freien Willen haben, sich für oder gegen ihn zu entscheiden. Wenn Gott nicht den freien Willen des Menschen berücksichtigen würde, wäre die Hölle leer, weil Gott jeden retten würde.

…die Pharisäer aber und die Gesetzesgelehrten machten den Ratschluss Gottes für sich selbst wirkungslos, indem sie sich nicht von ihm taufen ließen. (Lukas 7,30)

3 Das Ziel dieser Welt

Gott schuf die Welt aus Liebe. Er wollte seine Liebe mit den Menschen teilen. Deshalb schuf er uns mit dem Ziel, dass wir heilig seien, wie auch er heilig ist (1. Petrus 1,16). Gott wollte niemals, dass Menschen sündigen. Die Tatsache, dass Menschen ungehorsam waren und gegen Gott sündigten, widerspricht ganz Gottes Willen. Gottes ursprüngliches Ziel war es, dass wir Menschen eine Beziehung zu unserem Schöpfer haben. Wir wissen, dass Gott Liebe und Gerechtigkeit ist und er auch alle anderen Tugenden in seinem Wesen vereinigt. Deshalb war auch sein Plan, die Welt zu schaffen, rein. Er liebt alle von ihm geschaffenen Wesen. Wenn es nur nach Gottes Willen gegangen wäre, dann wäre sein Plan – eine Welt voll von Liebe und Frieden – erfüllt worden und würde bis heute noch bestehen. Es gibt aber keine Liebe ohne Freiheit. Weil Gott in seiner Liebe den freien Willen des Menschen akzeptiert, konnte durch die Entscheidung des Menschen die Sünde in die Welt kommen. Die Lehre der Prädestination sagt aber, dass Gott die Sünde schon im vorhinein plante und wollte, dass die Masse der Menschen in die Hölle geht. Das würde Gott zum Urheber der Sünde machen. Noch bevor sie geboren sind, entscheidet (laut Calvins Lehre) Gott, dass sie niemals die Chance haben werden, gerettet zu sein.

Sollte ich wirklich Gefallen haben am Tod des Gottlosen, spricht der Herr, HERR, nicht vielmehr daran, dass er von seinen Wegen umkehrt und lebt? … Werft von euch alle eure Vergehen, mit denen ihr euch vergangen habt, und schafft euch ein neues Herz und einen neuen Geist! Ja, wozu wollt ihr sterben, Haus Israel? Denn ich habe kein Gefallen am Tode dessen, der sterben muss, spricht der Herr, HERR. So kehrt um, damit ihr lebt! (Ezechiel 18,23.31–32)

Wir finden in der Bibel oft die Aufforderung: Bekehrt euch! Das setzt auch voraus, dass eine Bekehrung möglich sein muss! Wenn er uns ruft: „Bekehrt euch!“ befiehlt er nicht, aber er ermuntert, fragt, fordert auf, bittet inständig. Für den Allmächtigen ist es keine Demütigung uns zu fragen – denn er ist vollkommen demütig:

Wir bitten für Christus: Lasst euch versöhnen mit Gott! (2. Korinther 5,20)

3.1 Beziehung, Liebe und Wille

Das Ziel, woraufhin Menschen geschaffen wurden, ist, in einer Beziehung zu Gott zu stehen (Johannes 17,3). Die wichtigsten Charakteristiken für eine Beziehung sind Liebe und ein freier Wille. Wenn jemand dazu gezwungen wird, mit einem anderen Menschen zusammenleben zu müssen, ist es nicht ein Ausdruck tiefer Liebe, die diese Menschen verbindet. Eine Beziehung ist dann ein Ausdruck der Liebe, wenn beide Parteien auch die Möglichkeit haben, sich für oder gegen diese Beziehung zu entscheiden. Wenn man den Willen eines anderen steuern kann, wird er zu einem Roboter. Roboter tun das, wozu sie gemacht wurden. Gott schuf aber nicht Roboter, sondern Menschen, die vor der Entscheidung stehen, ob sie Gott lieben möchten oder nicht.

Ich rufe heute den Himmel und die Erde als Zeugen gegen euch auf: das Leben und den Tod habe ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch! So wähle das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen, indem du den HERRN, deinen Gott, liebst und seiner Stimme gehorchst und ihm anhängst! (5. Mose 30,19–20a)

Jerusalem, Jerusalem, die da tötet die Propheten und steinigt, die zu ihr gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt! (Matthäus 23,37)

Ist es nicht so, wenn du recht tust, erhebt es sich? Wenn du aber nicht recht tust, lagert die Sünde vor der Tür. Und nach dir wird ihr Verlangen sein, du aber sollst über sie herrschen. (1. Mose 4,7)

Auch nach dem Sündenfall ist es möglich, nicht in Sünden versklavt zu sein, sondern über sie zu herrschen.

4 Schlussfolgerungen aus dieser Lehre

    • Menschen, die an Prädestination glauben, leugnen, dass der Mensch einen freien Willen hat, um das Heilsangebot Gottes anzunehmen oder abzulehnen.
    • Sie glauben auch, dass der Mensch völlig verdorben sei, denn wenn der Mensch fähig wäre, das Gute zu wählen, könnte er auch Gott suchen.

Denn wenn Nationen, die kein Gesetz haben, von Natur dem Gesetz entsprechend handeln, so sind diese, die kein Gesetz haben, sich selbst ein Gesetz. (Römer 2,14)

    • Wenn jemand dazu vorherbestimmt ist, mit Gott zu leben, ist es unmöglich, wieder von ihm weg zu gehen; das heißt, wenn jemand Prädestination lehrt, muss er auch lehren, dass es keinen Abfall gibt. Siehe auch:Über den Abfall“. Derjenige, der erwählt wurde, kann der „Gnade“ Gottes nicht widerstehen, weil er auf jeden Fall zu Gott kommen wird. In Apostelgeschichte 7,51 steht aber: „Ihr Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herz und Ohren! Ihr widerstrebt allezeit dem Heiligen Geist, wie eure Väter, so auch ihr.„Prädestination negiert auch die Wichtigkeit der Werke. In der Bibel steht deutlich ausgedrückt, dass der Glaube ohne die Werke tot ist. (Jakobus 2,14+20)4 Siehe auch:Glaube und Werke“. Entsprechend dieser Lehre ist es dann auch nicht möglich, anhand der Früchte zu erkennen, ob jemand Christ ist oder nicht. Siehe auch:Was heißt es, ein Christ zu sein?“. Das ist ein klarer Widerspruch zu Matthäus 7,16 wo steht, dass wir den Baum an seinen Früchten erkennen werden.

      An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Liest man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln Feigen? (Matthäus 7,16)

      Wirklichem Glauben folgen Werke der Hingabe.

    • Die „Kirche“ verliert ihre Bedeutung, weil es nicht klar ist, wer zu ihr gehört. In Ortsgemeinden sind viele Menschen, die nicht gläubig sind, obwohl doch deutlich in 2. Korinther 6,14–7,1 steht, dass Gläubige und Ungläubige nicht unter einem Joch gehen und für das gleiche Reich kämpfen können.

Geht nicht unter fremdartigem Joch mit Ungläubigen! Denn welche Verbindung haben Gerechtigkeit und Gesetzlosigket? Oder welche Gemeinschaft Licht mit Finsternis? Und welche Übereinstimmung Christus mit Belial? Oder welches Teil ein Gläubiger mit einem Ungläubigen? Und welchen Zusammenhang der Tempel Gottes mit Götzenbildern? Denn wir sind der Tempel des lebendigen Gottes; wie Gott gesagt hat: „Ich will unter ihnen wohnen und wandeln, und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein“. Darum geht aus ihrer Mitte hinaus und sondert euch ab, spricht der Herr, und rührt Unreines nicht an, und ich werde euch annehmen und werde euch ein Vater sein, und ihr werdet mir Söhne und Töchter sein, spricht der Herr, der Allmächtige. Da wir nun diese Verheißungen haben, Geliebte, so wollen wir uns reinigen von jeder Befleckung des Fleisches und des Geistes und die Heiligkeit vollenden in der Furcht Gottes. (2. Korinther 6,14–7,1)

  • Deshalb hat man eine Unterscheidung zwischen sichtbaren Ortsgemeinden (wo auch Ungläubige sind) und der Kirche der Gläubigen (unsichtbare Kirche, die unabhängig von Ort und Zeit besteht) geschaffen. Aber diese künstliche Trennung hat keine biblische Grundlage. Siehe auch:Die sichtbare Kirche“.
  • Prädestination heißt, dass jemand, der sich heute bekehren will, es nicht kann, weil er darauf warten muss, bis Gott ihn „bekehrt“. Er kann also nicht beginnen, ein heiliges, gottgefälliges Leben zu führen, obwohl doch in Hebräer 3,7–8 bzw. in Psalm 95,7–8 steht: „Heute, wenn ihr seine Stimme hört, verhärtet eure Herzen nicht“. Diese katastrophale Verführung hat passive Menschen zur Folge.
  • Falsches Gottesbild: Wenn Gott ungeachtet des Willens der Menschen vorherbestimmt, wer gerettet sein wird und wer nicht, würde es bedeuten, dass Gottes Zorn auf denen liegt, welche er nicht rettet, und dass er die Menschen straft, die er in Wirklichkeit nicht retten wollte.
  • Prädestination behauptet, dass alles nach Gottes Plan geschieht, den er von Ewigkeit her gefasst hat. Dies würde zur Folge haben, dass Gott für Menschen nicht nur das Gute nicht wollte, sondern das Böse aktiv anstrebte. Dadurch wird er zum Urheber der Sünde.
  • Es gibt verschiedene Lehren über Prädestination – die einfache und doppelte Prädestination. In Wirklichkeit ist dieser Unterschied nicht entscheidend. Beide Lehren schließen den freien Willen aus. Wenn Gott „nur“ die erwählt, die zur Ewigkeit mit ihm bestimmt sind, dann gehen die anderen automatisch in die Hölle. Dadurch ist Gott selbst an der Verdammung derer, die er nicht rettet, schuldig.
  • Wer Prädestination lehrt, sollte sich darüber im Klaren sein, dass er das Wesen des Menschen falsch versteht. Er wertet das Menschsein ab, indem er seine Personhaftigkeit leugnet. Ein Mensch zu sein heißt, fähig und verpflichtet zu sein, aus freiem Willen und Verstand bestimmten Motiven und Zielen zu folgen, dabei Zugang zur Frage nach dem Sinn des Lebens zu erlangen und auch die Konsequenzen eines Lebens zu tragen, das man selbst gewählt hat.

5 Stellen, die den freien Willen auszuschließen scheinen

Wir sind uns dessen bewusst, wie schwer es jemand, der an diese Lehre gewöhnt ist, empfindet, wenn er einige Passagen des Neuen Testamentes liest. Den wirklichen Sinn der Verse zu verstehen, welche wie Prädestination klingen, würde eine tiefere Auseinandersetzung erfordern. Nichtsdestoweniger ist es wesentlich sich im Gedächtnis zu behalten, was wir über Gottes Wesen wissen. Schließlich gibt es im Alten und Neuen Testament viele andere Ausdrücke, welche nicht wörtlich verstanden werden können.

5.1 Epheser 1,3–5+11

Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus! Er hat uns gesegnet mit jeder geistlichen Segnung in der Himmelswelt in Christus, wie er uns in ihm auserwählt hat vor Grundlegung der Welt, dass wir heilig und tadellos vor ihm seien in Liebe, und uns vorherbestimmt hat zur Sohnschaft durch Jesus Christus für sich selbst nach dem Wohlgefallen seines Willens … Und in ihm haben wir auch ein Erbteil erlangt, die wir vorherbestimmt waren nach dem Vorsatz dessen, der alles nach dem Rat seines Willens wirkt … (Epheser 1,3–5.11)

Wo liegt der Schwerpunkt der Aussage in Vers 4? Betonen wir, dass er „uns erwählt hat“, dann könnte man es wie Calvin verstehen. Die Sache sieht aber ganz anders aus, wenn wir lesen: „Denn in ihm hat er uns erwählt …“. Gewichten wir die Aussage so, dann steht in diesem Vers nichts anderes als in Johannes 3,16. Dort ist die Rede davon, dass Gott jeden, der an seinen Sohn glaubt, retten will, während die, die ihn ablehnen, verloren gehen.

In der Sprache von Epheser 1,4 bedeutet das, dass er uns in Christus erwählt hat – aber eben nur in Christus. Dieser Gedanke findet sich auch in den Versen 3,5 und 11. Das heißt also, wenn wir nicht zu Christus kommen, stellen wir uns außerhalb der Erwählung und Bestimmung Gottes. Die Lehre von der Erwählung bzw. Vorherbestimmung in Christus ist in dieser Form nur ein anderer Ausdruck dafür, dass wir nur durch die Gnade Gottes errettet werden, die ihren Grund nicht in unseren Werken, sondern allein im Erbarmen Gottes uns gegenüber hat. Diese Gnade ist aber für alle Menschen offen (1. Timotheus 2,4), nicht nur für eine von vornherein feststehende Zahl, wie es der Calvinismus behauptet.

5.2 Philipper 2,12–13

Daher, meine Geliebten, wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht nur in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit, bewirkt euer Heil mit Furcht und Zittern! Denn Gott ist es, der in euch wirkt sowohl das Wollen als auch das Wirken zu seinem Wohlgefallen. (Philipper 2,12–13)

Am Anfang des Kapitels schreibt Paulus über Jesus, dass er sich selbst erniedrigte und immer darauf bedacht war, sein Leben ganz in den Dienst für andere zu stellen. Deshalb wurde ihm die Herrlichkeit gegeben, die ihm gebührt.

Darum hat Gott ihn auch hoch erhoben und ihm den Namen verliehen, der über jeden Namen ist. (Philipper 2,9)

In Vers 12 erklärt Paulus weiter: „daher“ sollt ihr alles tun, was in euren Kräften steht, um an der Beziehung zu Gott fest zu halten und das Ziel zu erreichen. Es ist klar, dass für diese Entscheidung unser Wille und unsere Kraft nie ausreichen würden. Deshalb sollen wir uns mit „Furcht und Zittern“ an Gott wenden. Mit diesem Ausdruck wird die Ehre, Ernsthaftigkeit, Achtung und das Bewusstsein ausgedrückt, was es bedeutet, vor dem allmächtigen Gott zu stehen (Vers 12), der unseren kleinen Willen stärkt (Vers 13). Er kann uns die Kraft und den Willen für unser Tun geben.

Man darf Vers 13 nicht falsch verstehen; diese Worte bedeuten nicht, dass der Mensch keinen Einfluss auf seinen eigenen Willen hätte, sonst hätte Paulus nie geschrieben „bewirkt euer Heil mit Furcht und Zittern“. Das tun zu können, setzt einen freien Willen voraus.

Am Anfang von Vers 13 steht: „Denn Gott ist es, der in euch wirkt“. Er möchte damit sagen, warum wir uns mit Furcht und Zittern an Gott wenden sollen, nämlich weil er derjenige ist, der uns helfen kann.5

5.3 Johannes 6,44

Niemand kann zu mir kommen, wenn nicht der Vater, der mich gesandt hat, ihn zieht; und ich werde ihn auferwecken am letzten Tag. (Johannes 6,44)

Jesus hatte gerade vorher ausgedrückt, dass er das wahre Brot ist und ewiges Leben gibt und deshalb die Menschen an ihn glauben sollen. Sie sollen ihm als Messias folgen. Den Juden war es immer klar, dass sie nur Gott folgen sollten. Deshalb war es ihnen besonders schwer, den Anspruch Jesu (ihm zu folgen) zu akzeptieren. Aus diesem Grund betont Jesus die starke Einheit, die zwischen ihm und dem Vater, den sie schon kannten, besteht.

Der Ausdruck, dass der Vater eine Person zieht, soll verdeutlichen, wie jemand zu Jesus kommt, sagt aber nicht aus, dass Gott nicht willig wäre, jeden Menschen zu ziehen, wenn er bereit wäre, ihm zu folgen.

Noch ein paar Gedanken zum Zusammenhang:

Die Aussage Jesu ist eine direkte Reaktion zur teilweise ablehnenden, teilweise enttäuschten Frage in Vers 42:

Ist dieser nicht Jesus, der Sohn Josefs, dessen Vater und Mutter wir kennen? Wie sagt denn dieser: Ich bin aus dem Himmel herabgekommen? (Johannes 6,42)

Es wäre völlig zusammenhangslos, hätte Jesus geantwortet: Ihr habt keine Möglichkeit der Entscheidung oder: Der Vater prädestiniert die Menschen, die eine Beziehung mit ihm haben können. Die Reaktion der Menschen zeigt, dass sie verstanden, dass Jesus beansprucht, der Sohn Gottes zu sein, der vom Himmel herabkam und in vollkommener Einheit mit dem Vater ist. In Vers 45 setzt er fort:

Es steht in den Propheten geschrieben: „Und sie werden alle von Gott gelehrt sein“. Jeder, der von dem Vater gehört und gelernt hat, kommt zu mir. (Johannes 6,45)

Diese Verse sprechen über das richtige Verständnis von der Offenbarung Gottes und der richtigen Einstellung zum Messias, d. h. zu Jesus. Jeder wird dazu gerufen‐ nicht nur eine Élite von Menschen, die es noch nicht wissen.

5.4 Römer 9

Das Problem der Juden (besonders 9,1–8.30–33)

Eine zusammenfassende Erklärung vorab:

Wenn wir über schwierige Bibelstellen nachdenken, dürfen wir nie das aus dem Auge verlieren, was uns das Wort Gottes selbst über Gottes Wesen sagt. Eine grundlegend wichtige Aussage über Gott ist die, dass Gott ganz gut ist. Jakobus schreibt:

Niemand sage, wenn er versucht wird: Ich werde von Gott versucht. Denn Gott kann nicht versucht werden vom Bösen, er selbst aber versucht niemand. (Jakobus 1,13)

Er ist gut, will das Beste für uns und will uns zum Guten führen. Wenn aber der Mensch Gottes Güte nicht wertschätzt und stattdessen auf sein eigenes „Gut‐sein“ baut, wird sein Herz hart.

Jesus hat die Herzenshaltung der meisten Juden seiner Zeit unter anderem im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg genau so beurteilt. In diesem Gleichnis sagt der Herr des Weinbergs zu den Arbeitern, die schon den ganzen Tag gearbeitet hatten und unzufrieden waren, weil die später Kommenden den gleichen Lohn erhielten:

Blickt dein Auge böse, weil ich gütig bin? (Matthäus 20,15)

Die Begegnung mit Jesus hat bei den Juden, die an ihrer Selbstgerechtigkeit festhalten wollten, zur Verhärtung gegenüber dem durch Jesus geoffenbarten Heilsplan Gottes geführt. Paulus beschreibt das so:

Denn ich gebe ihnen Zeugnis, dass sie Eifer für Gott haben, aber nicht mit rechter Erkenntnis. Denn da sie Gottes Gerechtigkeit nicht erkannten und ihre eigene aufzurichten trachteten, haben sie sich der Gerechtigkeit Gottes nicht unterworfen. (Römer 10,2–3)

Die Juden waren wohl eifrig, das Gesetz einzuhalten, waren aber nicht demütig, sich in Gottes Heilsplan einzufügen. Diese Auflehnung gipfelte in der Ablehnung Jesu, des ihnen von Gott gesandten Retters.

Im 9. Kapitel des Römerbriefes erklärt Paulus, dass Gott souverän ist und kein Mensch sich gegen Gottes Heilsplan stellen kann. Gott hat in seiner Liebe und Weisheit den Heilsweg vorbereitet, den jeder Mensch bereit sein muss zu gehen. Hier geht es nicht darum, dass der Wille des Menschen irrelevant ist und er nicht wählen könnte zwischen dem Weg zum Leben und dem Weg zum Verderben. Es geht darum, dass der Mensch – in Römer 9 konkret der gesetzestreue Jude – nicht seinen eigenen Willen gegen den Willen Gottes durchsetzen kann, was den Heilsweg Gottes betrifft. Widerstand gegen Gottes Plan verhärtet den Menschen in seinem Stolz. Bei den alttestamentlichen Beispielen, die Paulus in diesem Kapitel verwendet, geht es nicht um Erwählung zu ewigem Leben oder Verdammnis, sondern um die Erwählung zum Volk Gottes, zum von Gott gesegneten Volk, aus dem der Messias hervorgehen wird. Er beginnt mit dem Thema der Verheißung.

Zum Text im Einzelnen

In den Versen 1 bis 5 beschreibt Paulus, was Israel alles empfing: die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesschließungen, die Gesetzgebung, den Gottesdienst und die Verheißungen, dass der Messias aus den Juden kommen wird. Juden sehen diese Dinge als Garantie für ihre Erlösung. Trotzdem behauptet Paulus (Verse 1–3), dass die meisten unter ihnen nicht errettet sind. Den Juden erscheint das als ein Widerspruch. Paulus drückt in Vers 6 aus, dass trotz dieses scheinbaren Widerspruches Gottes Worte doch nicht ungültig geworden sind.  Auf der einen Seite erhielten sie die Verheißungen und auf der anderen Seite werden die meisten Juden nicht erlöst.

Aus dem heraus stellt er dann die Frage: Ist Gottes Wort denn hinfällig geworden? Nein, aber es ist nicht das Entscheidenste, ein Nachkomme, sondern Gott gegenüber gehorsam zu sein – ein Kind der Verheißung, das als Abrahams Erbe zählt (Vers 7).

Verse 9–13: Paulus schreibt über Isaak und Jakob. Jakob ist ein besonders gutes Beispiel dafür, dass die Verheißung nicht nach menschlichen Maßstäben übertragen wurde. Esau war der Erstgeborene und entsprechend der Überlieferung wäre er der Erbe der Verheißung gewesen. Die Wirklichkeit sah aber anders aus. Daran ist gut sichtbar, dass Gott sich das Recht vorbehält zu entscheiden, wer der Träger der Verheißung werden soll.

Paulus spricht hier grundsätzlich über die Frage der geistlichen Aufgaben im Erlösungsplan.

„Denn als die Kinder noch nicht geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten …“(Vers 11) Gott entschied, dass Esau Jakob dienen sollte. Diese Unterordnung Esaus Jakob gegenüber drückt sicher nicht aus, dass Gott im vorhinein bestimmt hatte, wer errettet und wer verdammt werden sollte, aber dass Gott schon vor ihrer Geburt entschied, wer der Träger der Verheißung sein würde. Dadurch konnte sich Jakob nicht rühmen, dass er es durch Werke erlangt habe (Vers 12).

Oft interpretieren Menschen Vers 13 in der Weise, dass es Rebekka schon vor der Geburt ihrer Zwillinge offenbart wurde, dass Gott Jakob lieben und Esau hassen wird. Das ist falsch, Vers 13 ist ein Zitat aus Maleachi 1,1–5 und einige Jahrhunderte nach dem Tod Esaus und Jakobs geschrieben. Dieser Text sagt nur aus, dass Gott das Volk Esaus (die Edomiter) verworfen hatte, weil sie eine feindliche Gesinnung gegenüber Israel von Anfang an hatten (4. Mose 20,14–21). Wieder ist es nicht Esaus persönliches Schicksal, das hier zum Thema gemacht wird, sondern das Schicksal der Edomiter als Volk. Paulus zitiert Maleachi um zu zeigen, dass Israel (Jakobs Nachkommen) die Erwählten sind.

Verse 14–16: Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott? Das sei ferne, weil er entsprechend seines Maßstabes erwählt und nicht entsprechend menschlicher Erwartungen und Maßstäbe. Er hat das Recht, den zu bestimmen, der der Träger der Verheißung werden soll.

Verse 17–19: Die Erlösung des Pharaos ist hier nicht das Thema, sondern das Zugeständnis, dass er das Volk aus Ägypten ziehen ließ. Gottes Plan geht in Erfüllung, auch wenn z. B. der Pharao sich völlig gegen das Volk stellt. Niemand kann Gottes Plan für die Menschheit aufhalten. Auch wenn der Pharao den Israeliten erlaubt hätte, Ägypten zu verlassen, hätte er seinen Glauben nicht verändert, sondern seinen Götzendienst weiterhin fortgesetzt. Gott hat den Menschen so geschaffen, dass er sich selbst verhärtet, wenn er Gott ablehnt. In diesem Beispiel wird deutlich, dass Paulus nicht erklären möchte, warum der Pharao verdammt und damit nicht von Gott erwählt wird, sondern er will seine Bosheit, sich gegen das Jüdische Volk aufzulehnen, herausstreichen.

Verse 20–24: Paulus leitet die folgenden Gedanken von Das Wort, das durch den HERRN zu Jeremia geschah: Mache dich auf und geh in das Haus des Töpfers hinab, und dort werde ich dich mein Wort hören lassen! Und ich ging in das Haus des Töpfers hinab, und siehe, er war gerade mit einer Arbeit auf der Scheibe beschäftigt. Und das Gefäß, das er aus dem Ton machte, missriet in der Hand des Töpfers. Und er machte wieder ein anderes Gefäß daraus, wie es in den Augen des Töpfers recht war zu tun. Und das Wort des HERRN geschah zu mir: Kann ich mit euch nicht ebenso verfahren wie dieser Töpfer, Haus Israel?, spricht der HERR. Siehe, wie der Ton in der Hand des Töpfers, so seid ihr in meiner Hand, Haus Israel. Einmal rede ich über ein Volk und über ein Königreich, es ausreißen, niederbrechen und zugrunde richten zu wollen. Kehrt aber jenes Volk, über das ich geredet habe, von seiner Bosheit um, lasse ich mich des Unheils gereuen, das ich ihm zu tun gedachte. Und ein anderes Mal rede ich über ein Volk und über ein Königreich, es bauen und pflanzen zu wollen. Tut es aber, was in meinen Augen böse ist, indem es auf meine Stimme nicht hört, so lasse ich mich des Guten gereuen, das ich ihm zu erweisen zugesagt habe.

Ein Töpfer formt den Ton. Es scheint, als ob er sieht, wie Menschen handeln und er dementsprechend seine Gefäße formt. Aber hier passiert noch mehr. Der Töpfer baut sogar aus den zerfallenen Gefäßen neue, die zur Herrlichkeit bestimmt sind. Das heißt, dass dieser Text sehr klar gegen Prädestination spricht und Gottes Barmherzigkeit und Gnade zum Ausdruck kommen.

Paulus bearbeitet dieses Gleichnis auf zwei verschiedene Weisen – Verse 20–21 und 22–24.

Zuerst spricht Paulus in den Versen 20–21 davon, dass man Gott nicht für die Art, wie er uns geschaffen hat, kritisieren kann. Der Töpfer hat das Recht Gefäße zu schaffen, die für ehrenvollen und unehrenvollen Gebrauch bestimmt sind. Es ist wichtig zu sehen, dass beide Gefäße – für ehrenvollen und unehrenvollen Gebrauch‐ in einem Haushalt ihren Zweck erfüllen. Das heißt, dass diese Verse nicht über Erlösung oder Verdammung sprechen, sondern über die Bestimmung der Gefäße für einen wichtigen oder weniger wichtigen Zweck. Gott hat also das Recht zu entscheiden, wer Träger wichtiger oder weniger wichtiger Aufgaben sein soll.

In den Versen 22–24 spricht Paulus über Gefäße, die zur Verdammung und zur Verherrlichung bestimmt sind. Die Gefäße zur Verherrlichung identifiziert er mit den Juden‐ und Heidenchristen. Gefäße zur Verdammnis sind diese, die sich gegen Gott entschieden haben. Dass Menschen sich selbst gegen Gott entschieden haben, steht nicht ausdrücklich hier im Text, wir gehen aber davon aus, weil es durch andere Stellen bestätigt wird. Wir sehen, dass Paulus hier das Thema der Erlösung berührt. Er möchte nicht sagen, dass wir unsere Erlösung nicht beeinflussen könnten, sondern, dass der Mensch sich Gott unterordnen soll, den Weg zu gehen, den Gott im vorhinein bereitet hat (Vers 23). Es ist schwer, einen klaren Übergang zwischen beiden Themen – Erlösung und Erwählung‐ zu sehen. Gottes Erhabenheit wird betont, nicht, weil Gott willkürlich über das Erlöstsein eines Menschen entscheidet, sondern weil sich der Mensch Gott unterordnen und den Weg, der in Christus für uns bereitet ist, gehen soll.

Wenn wir die Verse in Jeremia lesen, die hier zitiert werden, dann können wir sehen, dass die freie Entscheidung der Juden, Gott zu dienen oder nicht, vorausgesetzt wird.

Die Juden können nicht völlig mit einem Gefäß verglichen werden, das in schlechter Weise gemacht wurde und deshalb Gott sie als jüdische Nation verworfen und ein anderes Volk erwählt hat. Dieses Bild erreicht seine Grenzen, auch schon deshalb, weil der Ton, im Gegensatz zum Menschen, keinen freien Willen hat. Wenn Gott etwas schafft, dann wird es nicht misslingen.

Die Verunstaltung der Gefäße war nicht das Werk des Töpfers, sondern der Gefäße selbst. Deshalb können wir dieses Gleichnis nicht in absoluter Weise übertragen.

Es ist eindeutig, dass Paulus dieses Gleichnis im Lichte Jeremias betrachtete.

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Fußnoten:
  1. Kurt Flasch, Logik des Schreckens, Augustinus von Hippo, De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2; 2. Auflage; Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz, 1995; S. 169. 
  2. Zitiert nach: Heiligenlexikon: Martin Luther
  3. Zitiert nach: Calvin: Institutio (S. 619). 
  4. Vers 14: Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, hat aber keine Werke? Kann etwa der Glaube ihn retten? Vers 20: Willst du aber erkennen, du eitler Mensch, dass der Glaube ohne die Werke nutzlos ist? 
  5. Das Zusammenspiel zwischen dem Handeln Gottes und unserem eigenen wird auch in Hebräer 13,21 ausgedrückt.